Verhaltensdiagnostiksystem

Das Verhaltensdiagnostiksystem als Instrument der Verhaltensanalyse

Die aus der empirischen Forschung und der Verhaltenstheorie und -therapie resultierenden Kernvariablen nähern sich an. Sie entsprechen den Erkenntnissen der Hirnforschung über die Arbeitsweise des Gehirns.

Das motivationale System: Epsteins (1993) Theorie enthält das Postulat von vier Grundbedürfnissen, während Sulz und Müller (2000) sechs Bedürfnisfaktoren extrahierten (Homöostase, Bindung, Orientierung, Selbstwert, Autonomie,/Autarkie, Identität).  Der Begriff des impliziten Motivs entspricht diesen Bedürfniskategorien (vergl. Heckhausen und Heckhausen, 2008).

Das kognitive System: Der Mensch entwickelt eine persönliche Theorie der Realität, die sich u.a. aus intentionalen Postulaten zusammensetzt, die ihm vorgeben, was er tun und was er unterlassen muss, um diese Bedürfnisse zu befriedigen. Sie entspricht den persönlichen Konstrukten Kellys (1955), den Überlebensregeln (Sulz 2001) und den kognitiven und motivationalen Schemata (Grawe 1998). Diesen vorbewussten Teil der Psyche nennt er das experiential system im Gegensatz zum bewussten rationalen System. Diese Einteilung entspricht der Unterscheidung von autonomer und willkürlicher Psyche von Sulz (1994) und der Einteilung Grawes (1998) in implizit und explizit.

Das Verhaltensdiagnostiksystem (Sulz 1999a,b, 2000, 2001) erfaßt die für die Therapieplanung wichtigen Parameter des psychischen Systems:  Motivationsanalyse (Bedürfnis – Verstärkung, Angst – Vermeidung, Aggression – Angriff), Kognitionsanalyse, Emotionsanalyse, Entwicklungsanalyse, Persönlichkeitsanalyse, Wertanalyse, Konfliktanalyse, Ressourcenanalyse, Situationsanalyse und schließlich die SORKC-Analyse und zeitlich allem vorgeordnet die Symptomanalyse mit Achse I- und II-Diagnostik. Dies ergibt ein umfassendes Diagnosesystem, das sowohl in Papier-und-Bleistift-Form als auch als EDV-Version vorliegt, bei der der Patient seine Angaben direkt am Monitor eingeben kann. Ergänzt durch neuropsychologische, psychophysiologische und neurobiologische Messungen erfolgt eine Informationssammlung und -auswertung, die eine qualifizierte Therapieplanung ermöglicht (Sulz 2001).

Ganz neu für Patienten sind die Persönlichkeitsbeschreibungen.

Einige TherapeutInnen halten das Persönlichkeitsprofil von Oldham & Morris für vorteilhaft. Hier können Sie Wichtiges dazu lesen:Oldham-Morris-Persönlichkeitsstile mit VDS30-Persönlichkeitstest erfassen

Einige Fragebögen seien hier beispielhaft genannt:

VDS27 Die zentralen Bedürfnisse (Belohnungs- und Verstärkungssystem, implizite Motive) eines Menschen (Sulz 1999b, 2001, Sulz und Tins 2000, Sulz und Müller 2000) steuern sein Beziehungsverhalten. Er versucht, diese Bedürfnisse bzw. eines dieser Bedürfnisse in seinen wichtigen Beziehungen zu befriedigen. Ein großer Teil seiner Transaktionen dient der Befriedigung seiner zentralen Selbst- bzw. Beziehungsbedürfnisse, z.B. Geborgenheit, Sicherheit, Zuneigung, Wertschätzung. Patienten können sehr gut zwischen den einundzwanzig im VDS27 vorgegebenen Bedürfnissen differenzieren.

VDS29 Zentrale Aggressionstendenzen lassen sich ebenso gut explorieren. Bittet man Menschen, sich vorzustellen, dass sie die größtmögliche, berechtigte Wut auf eine wichtige Bezugsperson haben, so wiederholen sich einige Wuttendenzen so häufig, dass man sie in einem Fragebogen als Antwortkategorien anbieten kann (Sulz 1999b, 2001, Sulz und Müller 2000:). Wenn wir wissen, welche Handlungstendenz ein Patient im Falle großer Wut in Schach halten und unterdrücken muss, werden einige Verhaltensweisen verständlich, die weder durch den Versuch der Bedürfnisbefriedigung noch der Angstvermeidung erklärbar sind.

VDS28 Zentrale Ängste und Vermeidungstendenzen sind der dritte motivationale Bereich. Hier geht es um das in der Hirnforschung beschriebene Bestrafungssystem. Auf die Frage „Was wäre bezüglich Ihrer Beziehung zu der Ihnen wichtigen Bezugsperson das Schlimmste, was Ihnen passieren könnte?“, oder „Was fürchten Sie am meisten in dieser Beziehung?“, gibt es einige wenige typische Antworten, die sich als Antwortkategorien eines Fragebogens eignen, der die zentrale Angst erfasst (Sulz 1999b, 2001, Sulz und Müller 2000).

VDS35 Die Kognitionsanalyse führt u. a. zu einer impliziten Überlebensregel (Sulz 2001) Sie kann folgenden Satzbau haben: Nur wenn ich immer …(z.B. mich schüchtern zurückhalte) und wenn ich niemals …(z.B. vorlaut und frech bin) bewahre ich mir …(z.B. die Zuneigung der mir wichtigen Menschen) und verhindere …(z.B. deren Unmut und Ablehnung). Der Name Überlebensregel weist darauf hin, dass die Psyche einen Verstoß gegen diese Regel für nicht verträglich mit dem emotionalen Überleben in wichtigen Beziehungen hält. (Sulz 1999b, 2001).

VDS32 Da Emotionen wesentlich die Bedeutungsgebung in sozialen Beziehungen determinieren und auch die primären Motivatoren sozialen Handelns sind, gibt ihre Erfassung Aufschluss sowohl über die emotionale Selbstregulation als auch über die Beziehungsregulation. In Anlehnung an Schmidt-Atzert und Ströhm (1983) ergibt sich eine Liste von 42 Gefühlen, die in die vier Gruppen Freude, Trauer, Angst und Wut eingeteilt werden können (Sulz 1999b, 2001).

VDS33 Die Werte, die ein Mensch internalisiert hat, haben nichts mit den Geboten und Verboten der Überlebensregel zu tun. Eigene empirische Studien führten zu Wertefaktoren, die die Grundlage für einen Wertefragebogen waren (Sulz 1999b, 2001:), der sieben Faktoren umfaßt.

VDS26 Die Ressourcen eines Menschen sind gerade dann wichtig, wenn es Probleme zu lösen oder gar Krankheiten zu behandeln gilt (Grawe 1998). Die Ressourcen eines Menschen als latentes und manifestes Repertoire an Eigenschaften und Fähigkeiten, an Möglichkeiten des Schöpfens aus materiellen und immateriellen Reserven, um Lebensqualität herzustellen und zu sichern, sind die Habenseite, die seine Lebenstüchtigkeit ausmachen. Eine systematische Ressourcenanalyse beleuchtet die vorhandenen Ressourcenquellen (Sulz 1999b, 2001).

VDS30 Im klinischen Kontext erfolgt die Persönlichkeitsanalyse nach den ICD-10-Kriterien. Die von Sulz (2000) vorgeschlagenen Selbstbeurteilungsskalen haben stabile statistische Eigenschaften (Sulz et al. 1998, Sulz und Theßen 1999, Sulz und Müller 2000, Sulz und Sauer 2002) und erfassen die für die Psychotherapie häufigsten Dysfunktionalitäten. Inzwischen liegen sie in einer auf elf Skalen erweiterten Form vor: selbstunsicher, dependent, zwanghaft, passiv-aggressiv, histrionisch, schizoid, narzisstisch, emotional instabil, paranoid, schizotyp, dissozial. Ein standardisiertes Interview zur Nachexploration ermöglicht die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung.

VDS31 Die affektiv-kognitive Entwicklungsanalyse lässt sich z.B. mit den VDS-Entwicklungsskalen durchführen ( Sulz 1999b, 2001, Sulz und Theßen 1999). Diese enthalten eine auf Piaget (Piaget und Inhelder 1981) und Kegan (1986) zurückgehende Stufeneinteilung und bringen in vielen Fällen eine weitere Perspektive in die Fall- und Therapiekonzeption. Mit einer Selbstbeurteilungsskala können sechs Stufen des emotionalen und Beziehungsentwicklungsstandes erfasst werden.

VDS37 Eine systematische Konfliktanalyse (Sulz 1999b,2001) kann die Zahl, Art und Bedeutung von Konflikten für die Symptomentstehung und -aufrechterhaltung klären helfen, z. B. Versorgung versus Autarkie (Geborgenheit versus selbst machen und können), Abhängigkeit versus Autonomie (Schutz versus Selbstbestimmung), Impuls versus Steuerung (Bedürfnisbefriedigung versus Kontrolle), Hingabe versus Identität (Beziehung versus Selbsterhalt). Hierzu wurde kein Fragebogen in die Mappe aufgenommen. Der Bogen ist jedoch einzeln erhältlich.

VDS23 Auch die Situationsanalyse (Sulz 1999b, 2001) als Erfassung schwieriger und wichtiger Situationen vervollständigt unsere Sicht durch externe Fakten. Welche schwierigen Situationen kommen im Leben und in den Beziehungen des Patienten häufig vor? Welche sind nur schwer zu bewältigen? Welches Problem bringt die Umwelt auf den Patienten zu? Aus welchen Situationen macht er ein Problem?

VDS14 Die Symptomanalyse besteht aus der strukturierten Befunderhebung (Sulz 1999a, Sulz et al. 2002), die zur Syndromdiagnose führt, die in der Therapieplanung eher handlungsleitend ist als die ICD-10-Diagnose. Durch einen hinzugefügten Leitfaden kann der Schritt von der Syndromdiagnose zur ICD-10-Diagnose schnell und reliabel beschritten werden.

VDS21 Im Mittelpunkt steht die SORKC-Analyse. Sowohl der symptomauslösende Aspekt der Lebenssituation, die Reaktionen auf diese, als auch die symptomaufrechterhaltenden Bedingungen lassen sich mit dem Leitfaden zur Erstuntersuchung (Sulz 1999b, 2001) herausschälen. Dabei wird die typische Reaktionskette auf einen Auslöser hin analysiert: primäre Emotion, primärer Handlungsimpuls, Antizipation negativer Folgen, sekundäres, gegensteuerndes Gefühl, vermeidendes Verhalten, Symptombildung.

VDS22 Zur Vervollständigung können wir eine biographische Anamnese (Sulz 1999a, 2000: VDS1) und eine Fremdanamnese (Sulz 1999b, 2001) wichtiger Bezugspersonen erheben, die die Subjektivität der Schilderungen des Patienten relativieren hilft.

Literatur: 

Epstein S (1993): Emotion and self-theory. In Lewis M, Haviland J (Hrsg.) Handbook of Emotions. New York: Guilford
Grawe K (1998): Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe
Kegan R. Die Entwicklungsstufen des Selbst – Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben. München: Kindt, 1986
Kelly G. The Psychology of Personal Constructs. New York: Norton, 1955:1218. ; vol 1).
Piaget J, Inhelder B. Die Psychologie des Kindes. Frankfurt: Fischer, 1981
Schmidt—Atzert L, Ströhm W. Ein Beitrag zur Taxonomie der Emotionswörter. Psychologische Beiträge 1983;25:126-141
Sulz SKD: Strategische Kurzzeittherapie – Wege zur effizienten Psychotherapie. München: CIP-Medien 1994
Sulz SKD: Materialmappe zum Verhaltensdiagnostiksystem VDS (VDS1 – VDS14). München: CIP-Medien 1999a
Sulz SKD: Strategische Therapieplanung – Materialienmappe (VDS20-VDS47). München: CIP-Medien 1999b
Sulz SKD: Verhaltensdiagnostik und Fallkonzeption. München: CIP-Medien 2000
Sulz SKD: Von der Strategie des Symptoms zur Strategie der Therapie: Planung und Gestaltung der Psychotherapie. München: CIP-Medien 2001
Sulz SKD, Gräff U, Jakob C: Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung. Eine empirische Untersuchung der VDS-Persönlichkeitsskalen. Psychotherapie 3, Heft 1, 1998
Sulz SKD, Theßen L.: Entwicklung und Persönlichkeit – Die VDS-Entwicklungsskalen zur Diagnose der emotionalen und Beziehungsentwicklung. Psychotherapie 1999, 4, 31 – 44
Sulz SKD, Tins A.: Qualitative Analysis of needs in Childhood and the influence of frustration and satisfaction upon development of personality and psychic disorders. European Psychotherapy 2000, 1, 81-98
Sulz SKD, Müller S.: Bedürfnis, Angst, Wut und Persönlichkeit – eine empirische Studie zum Zusammenhang zwischen motivationalen Variablen und dysfunktionalen Persönlichkeitszügen. Psychotherapie 2000, 5, 22-37
Sulz, S., Hörmann, I., Hiller, W., Zaudig, M. (2002). Standardisierte Erfassung des psychischen Befundes in der psychotherapeutischen Praxis. Psychotherapie 7, 1, 23-39
Sulz, S., Sauer, S. (2003). Diagnose und Differentialdiagnose von Persönlichkeitsstörungen durch ein standardisiertes Interview. Psychotherapie, 8, 1, 45-59
Sulz, S., Grethe, C. (2005). Die VDS90-Symptomliste – eine Alternative zur SCL90-R für die ambulante Psychotherapiepraxis und das interne Qualitätsmanagement. Psychotherapie 10, -S. 38-48
Sulz S. & Sulz J. (2005). Emotionen. Gefühle erkennen, verstehen und handhaben. München: CIP-Medien
Sulz, S. & Becker, S. (2008). Diagnose der emotionalen und Beziehungsentwicklung in der psychotherapeutischen Praxis – Anwendung eines standardisierten Interviews. Psychotherapie 13, 28-37
Sulz, S. & Maßun M. (2008). Angst als steuerndes Prinzip in  Beziehungen – Ergebnis einer qualitativen Analyse von Interviews. Psychotherapie 13, 37-45
Sulz, S., Maier, N. (2009): Ressourcen- versus defizitorientierte Persönlichkeitsdiagnostik – Implikationen für die Therapie von Persönlichkeitsstörungen? Psychotherapie 14, Heft 1